Schluss mit Industrie 4.0 Pausenhof-Getuschel

Branchenübergreifende Expertenrunde diskutiert gemeinsam mit VDMA und MES-Profi GUARDUS über wirksame Strategien für die digitale Transformation der produzierenden Wirtschaft

Wer entscheidet eigentlich im Rahmen von Industrie 4.0-Visionen über die Zukunftsfähigkeit eines Geschäftsmodells? Die Antwort: Elefanten, Teamplayer und Mitdenker. Details zu dieser überraschenden Aussage bekamen die Teilnehmer der branchenübergreifenden Expertenrunde der GUARDUS Solutions AG von zwei ausgewiesenen Themenprofis: Prof. Claus Oetter, stellvertretender Geschäftsführer des Fachverband Software sowie Leiter des Forums „IT@Automation“ beim VDMA in Frankfurt am Main, und Andreas Kirsch, Vorstandsmitglied des MES-Herstellers aus Ulm. Ein Summary der Teilnehmerin Monika Nyendick, Fachjournalistin aus Ulm.

„IT-basierte Intelligenz ist das zentrale Rüstzeug, um die Chancen der Digitalen Transformation gezielt auszuschöpfen und Risiken mit entsprechender Weitsicht sowie Klarheit in der eigenen Strategie zu begegnen“ – so ähnlich beginnen die meisten Intros einer Industrie 4.0-Konferenz. Eine weitere Gemeinsamkeit: Viel wird gesprochen, wenig wirklich verstanden. Um diesem Dilemma vorzubeugen, konzentrierte sich der GUARDUS Talk, der jüngst in Ulm stattfand, auf konkrete Erklärungen, greifbare Inhalte und wirksame Methoden.

Industrie 4.0 ist kein Trendthema, das urplötzlich vom Himmel gefallen ist. Vielmehr handelt es sich um die logische Konsequenz einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft. Was im Consumer-Umfeld mit der Massenverbreitung mobiler Endgeräte begonnen hat, hält heute Einzug in die produzierende Wirtschaft – nicht mehr, nicht weniger. Spricht man von Industrie 4.0, „liegen die wesentlichen Grundlagen in der engen Verzahnung von Produktionsprozessen mit den Kommunikationsmöglichkeiten des Internets“, so das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Doch von welchen Möglichkeiten und Symbiosen ist hier eigentlich die Rede?

Hör mal, wer da spricht!
Aus der Vogelperspektive gleicht Industrie 4.0 einer Dissonanz aus Schlagworten und Akteuren. Viele reden von Cyber Physical Systems, hochautomatisierten Produktionslinien, integrierten Software- und Maschinenlandschaften und natürlich – ganz vorne mit dabei – Business Apps zur Unterstützung der kommenden, mobilen Arbeitswelt 4.0. Bohrt man sich mithilfe der Experten Prof. Claus Oetter (VDMA) und Andreas Kirsch (GUARDUS Solutions AG) in die Materie hinein, wird die Verschmelzung dreier Bewegungen sichtbar. Es beginnt mit dem „Internet der Menschen“, an dem mittlerweile 75 Prozent der Weltbevölkerung teilnimmt. Die digitale Kommunikationsrevolution, welche im Endverbrauchermarkt durch Smart Devices ausgelöst wurde, fand in der Folge ihre erste Ableitung im „Internet der Dienste“ – also Services und Dienstleistungen jeder Art, die durch den Einsatz von Internettechnologien möglich werden. Dritter im Bunde der digitalen Triangel ist das „Internet der Dinge“, mit dessen Hilfe alle möglichen Objekte via Internetprotokoll kommunizieren – von Toaster, Anzughose und Autositz über intelligente Werkstücke und selbstdenkende Lagerbestände bis hin zu twitternden Produktionsanalagen. Aktuelle Zahlen zeigen auf, dass im Jahr 2015 6,6 Milliarden Dinge weltweit vernetzt sind – und alle wollen oder können (miteinander) reden.

Kein Elefant im Porzellanladen
Was sind nun die wichtigsten Faktoren, welche die Digitalisierung in der produzierenden Wirtschaftsgesellschaft zum Fliegen bringen? Prof. Claus Oetter: „Ohne IT geht nichts – aber Vorsicht! Egal wie mächtig Software im Rahmen von Industrie 4.0-Szenarien auch ist, sie ist trotz allem nur das Helferlein, das den Menschen unterstützt.“ Wer also diesen aufgrund akuter Automatisierungsbegeisterung aus der Gleichung streicht, hat verloren. Wirksame IT-Strukturen müssen das Ziel verfolgen, positive Emotionen beim Anwender auszulösen. Nur so werden die Konzepte im Sinne der digitalen Strategie auch effizient und wirksam eingesetzt. Warum? Betrachtet man das menschliche Gehirn, so haben Verstand und Vernunft lediglich eine beratende Funktion, wenn es um Entscheidungen und nachhaltige Handlungen (Gewohnheiten) geht. Der wirkliche Boss sitzt im limbischen System, in unserem Unterbewusstsein. An dem Ort unserer Emotionen und Gefühle wird am Ende des Tages entschieden, was wir tun und lassen. Prof. Oetter greift zur Analogie „Elefant und Reiter“. Der Reiter steht für Verstand und Vernunft, der Elefant repräsentiert unser Unterbewusstsein. Die Frage stellt sich nun: Wer steuert wen? Hat der Reiter eine Chance, wenn der Elefant nicht will? Was bringen unzählige funktionale und technologische Argumente, wenn der Anwender ein „schlechtes Gefühl“ dabei hat? „Mitarbeiter jeder Unternehmensebene werden künftig über eine völlig neue Form der Software-Verfügbarkeit ihre Arbeiten ausführen, Situationen bewerten und Entscheidungen treffen. Deshalb ist es unabdingbar, dass der Umgang positive Emotionen hervorruft“, führt Andreas Kirsch weiter aus.

Ein Hoch auf agile Team-Spieler und Usability
Wir brauchen also positive Gefühle, damit der Anwender sich motiviert und nachhaltig ins 4.0-Geschehen einbringt. Dies funktioniert laut Oetter und Kirsch zum einen durch die aktive Integration der Menschen in den Software-Entwicklungsprozess, zum anderen durch maximale Usability. Das Selbstkonzept der IT-Entwicklung muss sich dahingehend verändern, die betreffenden Fachanwender einzubinden – sei es bei der Definition einer App, eines IT-gestützten Arbeitsablaufs oder eines Business Cases zur Integration von Anlagen und Messsystemen. Anwender sind sowohl Ideengeber als auch wertvolle Beta-Tester. So prüfen sie nicht nur Schnelligkeit und Stabilität, etwa bei einer App, sondern auch die Praxisnähe der Funktionen und deren Usability. Gerade der Bedienkomfort ist bei neuen Anwendungen entscheidend. Ist die Engineering-Kultur eines Unternehmens in der Lage, die Nutzer durch die Prinzipien von Agilität und Flexibilität zu integrieren, identifizieren sich diese deutlich stärker mit dem schlussendlichen IT-Endprodukt und wenden es zielführender an.

Mitdenken ist der Schlüsselfaktor zum Erfolg
Betrachtet man die Digitalisierung als eine Kondratjewsche Welle, wird sie nach ihrem Abebben die Gesellschaft nachhaltig verändert haben – so wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Elektrotechnik und die Automatisierung. Digitalität wird sich überall ausbreiten, wo es Möglichkeiten zur Entfaltung gibt, ohne Anspruch darauf zu erheben, ob es sinnvoll oder politisch und ethisch korrekt ist. Den Rahmen der Verträglichkeit sowie die Richtlinien zum effizienten und zugleich arbeitsplatzkonformen Einsatz schaffen wir Menschen, nicht die Systeme. Wie sich die Arbeitswelt in Zeiten einer digitalen Gesellschaft verändern wird, entscheiden also wir.